Die Proteste wegen eines Vortrags des Mitbegründers der AfD, Bernd Lucke hat in Deutschland eine Diskussion über den Zustand der Meinungsfreiheit ausgelöst. Sieben Thesen aus Sicht eines Kommunikationswissenschaftlers.
Ja dürfen’s denn das? Ja, warum darf er denn nicht?
Was darf man denn überhaupt? Wer traut sich noch?
Wahnsinn, wer sich alles nicht mehr traut!
Seit Bernd Lucke seine Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg wieder aufnehmen wollte, ist die Debatte vielfach diskutiert: Nämlich, wie es denn an (deutschen) Hochschulen um die Meinungsfreiheit bestimmt sei; und wer dort – insgesamt und jetzt gerade besonders – überhaupt öffentlich reden dürfe oder eben daran gehindert werden müsse, um ein demokratisches Bollwerk zu errichten.
Bernd Lucke jedenfalls, der Mitbegründer der AfD, wurde dabei von Protestgeschrei begrüßt und an der Abhaltung seiner dozierenden Aufgabe gehindert. Schließlich sei er ja der ehemalige Vorsitzende einer (damals noch als eurokritischen Professorenpartei AfD geltenden, und seither einhergehend mit personellen Metamorphosen so weit nach rechts gerückten) Partei, deren Beobachtung der deutsche Verfassungsschutz zumindest bedenkenswert findet.
"Flankiert von themenbezogenen Meinungs- wie Bedenkenträgern saß daher kurz darauf ausgerechnet der mundtot gemachte Lucke im Talkshow-Studio bei Maischberger, um darüber zu diskutieren, ob die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr sei."
Wie gewohnt substanziell unterfüttert wurde diese Sorge durch in der BILD kompilierte Umfragedaten, die signalisieren, dass große Mehrheiten der Deutschen sich eben nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen.
Da solche Universitäten aber recht verstreut sind und ja bei Weitem nicht alle betreffen, wird die Frage nach der Meinungsfreiheit dann gleich und gerne auf das ganze Land hochskaliert, denn schließlich wenn nicht einmal dort jeder alles reden dürfe, wo denn dann?
Unter dem Titel „Die neuen Feinde der Freiheit“ formulierte die „Welt am Sonntag“ entsprechend bedeutungsschwer: „Grundlage aller Demokratie ist freie Meinungsäußerung. Ausgerechnet an Unis und an Orten der Kultur gerät das Fundament der Gesellschaft ins Wanken“. Die BILD kam notwendigerweise zum Schluss: „Erschreckend!“
"Man kann an solchen Stellen freilich immer einwenden, dass es oft noch erschreckender ist, was die Leute, die ihre Meinung sagen, alles für eine Meinung halten – und wie weit man sich in einer Melange aus Kenntnisarmut bei gleichzeitiger Empörungsbereitschaft nicht von der Artikulation eines solchen als Meinung missverstandenen rhetorischen Bäuerchens abhalten lässt."
Manch öffentliche Meinungsäußerung wäre durch ein Denkverbot in der Tat weniger bedroht als durch ein Denkgebot verhindert.
Aber es war ja nicht nur die BILD. Sondern viele Journalisten quer durch alle Qualitätsstufen der deutschen Medienlandschaft sahen sich daran erinnert in einem allfälligen kommunikationswissenschaftlichen Studiengang von der Schweigespirale gehört zu haben und diese jetzt – Studium, endlich mal praxisrelevant – reaktivieren zu können.
Klagende oder fragende Artikel, die eingeholte Meinung von Experten und Stellungnahmen von Hochschulpräsidenten, Verweise darauf, was andernorts, speziell in den USA schon alles nicht mehr gehe usw.:
"Von wegen Schweigen! – Die einzige Spirale, die sich dreht, ist das gesamte Repertoire medialer Debatten(un)kultur, das zu dem Thema in Bewegung gebracht wurde (süffisant aus der Distanz nachgeschickte Texte wie dieser hier miteingerechnet)."
Und schließlich hatte es sogar im deutschen Bundestag eine „Aktuelle Stunde“ zum Thema „Meinungsfreiheit verteidigen“ gegeben.
Meinungsfreiheit oder – im Fall von Lucke – auch die Wissenschaftsfreiheit und die Lehrfreiheit sind in der Tat besonders schützenswerte, kultur- und demokratierelevante Errungenschaften, daher soll die Sorge darum auch ernst genommen werden.
Ich möchte Sie an dieser Stelle aber nicht damit behelligen, wie ich zu tatsächlichen oder vermeintlichen Redeverboten an den Universitäten stehe, sondern ausgehend von der Debattenmaschinerie, die in Gang geraten ist, einige Thesen aus der Perspektive meines Fachs teilen:
These 1: Debatten verschwinden nicht - sie verlagern sich
Gesellschaft braucht in der Tat offenen Diskurs, Diskurs braucht Regeln und auch Grenzen. Wo die Grenzen und gegebenenfalls auch die Brandmauern hochgezogen werden und thematische NoGo-Areas entstehen sollten, das kann auch nur im Diskurs und in der öffentlichen Debatte entstehen bzw. hinterfragt und verworfen werden. Dabei darf man zugleich nicht so naiv sein zu denken, dass Positionen, die man verbannen möchte, einfach verschwinden, wenn man sie aus der Universität, von einem Platz oder aus einer Talkshow fernhält. Sie finden häufig nur einen anderen Raum, andere Foren, andere Kanäle, in denen sie anders als etwa in massenmedialen oder wissenschaftlich moderierten, beobachteten Öffentlichkeiten nicht eingeordnet, widersprochen oder herausgefordert werden können.
These 2: Positionierung über Themen, "die man nicht ansprechen darf"
Wer beklagt, dass man über etwas nicht mehr reden dürfe, ist typischerweise sehr kurz davor, gerade zu diesem Thema, das nicht genannt werden soll, in öffentlicher Rede in Erscheinung zu treten oder es fingerfertig in einen Touchscreen zu wischen. Die Bereitschaft, sich anschließend selbst zum eigenen Mut zu beglückwünschen oder gratulieren zu lassen und sich durch jedwede Form der Widerrede bestärkt zu fühlen, – siehst, man hat aber ja wirklich nicht gedurft – ist dann nur die Wildpreiselbeere zum Wiener Schnitzel: eine bloß vordergründig überraschende Kombination, die aber fest zum Ensemble dazugehört.
These 3: Differenzierung ist wichtig
Dafür Debattenbeiträge und Auftritte zu verhindern, insbesondere dann, wenn durch Akteure oder Inhalte in spezifischen Kontexten symbolisch aufgeladene Wirkungen erzielt werden sollen, kann es gute Gründe geben. Etwa wenn bei Gedenkveranstaltungen Redner auftreten möchten, die in Wort und Tat im diametralen Widerspruch zum Gedenkanlass stehen. Es sollte sich dabei aber eben um Gründe handeln, die idealerweise über Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten hinausreichen, und sich nach allgemeineren Leitlinien orientieren (These 1), ohne nur dem Widerpart keinen symbolischen Erfolg zu gönnen. Während Grenzen zu ziehen und zu schließen ein höchst verantwortungsvoller Akt ist, mit dem auch verantwortlich umgegangen werden muss, ist zugleich noch längst nicht die Meinungsfreiheit in Gefahr, wenn nicht jeder überall eine Plattform geboten bekommt oder heftigen Gegenwind erfährt. Hier tut Differenzierung Not, schadet aber der medialen und politischen Verwertbarkeit.
These 4: Universitäten legitimieren
Auch Universitäten sind symbolisch aufgeladene Orte. Sie gelten als Keimzellen gesellschaftlichen Wissens, sind immer noch Träger von Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Bildung. Universitäten sind Brutstätten sozialer Visionen sowie (trotz in verschiedenen Aspekten auflodernder Wissenschaftsfeindlichkeit) die evidenzbasierten Autoritäten unserer Wissensordnung. Wer an der Universität sprechen darf, kann für sich in Anspruch nehmen, wahrscheinlich auch etwas zu sagen zu haben. Hier zu sprechen kann Positionen legitimieren und mit dieser Autorität laden. Darüber zu befinden, wer nicht dazu gehört, nicht hineinpasst oder verhindert werden muss, heißt daher über dieses symbolische Kapital verfügen zu können, was aufwertet und gesellschaftliche Relevanz für sich in Anspruch nehmen lässt. Es geht dabei mehr darum, entscheiden zu können, als um die eigentlichen Inhalte, die jemand vertritt oder wofür die Person konkret steht.
These 5: Empörungsspirale ist wichtiger als die Debatte
Ein umstrittener Redner, eine provokante These, eine gesprengte Veranstaltung oder ein verhinderter Auftritt sind nur der kleinste Teil der Ereigniskette. Denn worauf es eigentlich ankommt, ist die kommunikative Verwertbarkeit eines Ereignisses als diskursives Erzeugnis. Wie jeder Skandal und jede Provokation wird die mögliche Resonanz einkalkuliert und antizipiert, Verhinderer, Verhinderte und Berichterstattende möchten in den meisten Fällen beide kommunikatives Kapital aus dem Ereignis schöpfen, das mitunter nur zu diesem Zwecke organisiert wird. Keine Rede ist so wichtig, kein Argument so verstörend und keine Verhinderung so notwendig, dass es den Aufmerksamkeitswert der in Bewegung gesetzten Empörungsspiralen aufwiegen könnte. Weil sich am Ende alle Beteiligten als Gewinner fühlen können, bleibt nur eine ernsthafte Debattenkultur, in der es um Argumente und Inhalte ginge, als Verlierer zurück.
These 6: Reaktionen werden wichtiger als Inhalte
Das Eigentliche verliert hinter den Reaktionen darauf an Relevanz. In seinem im Skandal zu Ende gegangenen Pressegespräch hatte Peter Handke kürzlich fäkal beklagt, dass man sich zu wenig mit seiner Literatur befasse und ihn stattdessen mit Reaktionen auf Reaktionen zu Reaktionen behellige. Ohne diese konkrete Diskussion zu vertiefen, steckte in diesem (spontanen?) Ausbruch ein interessanter Aspekt. Unsere aktuelle Medien- und Debattenkultur ist stark auf das Erzeugen von (Pseudo)-Resonanz ausgerichtet, auf Reaktionen und Interaktionen, die ihrerseits wieder Anlassfall und Spiegelungsfläche für neue Reaktionen werden. Nach dem Motto „sie hat gesagt, dass er gesagt hat und was sagen nun Sie dazu“ verliert ein konkreter Anlassfall, eine spezifische inhaltliche Ausrichtung und eine spezielle Situation schnell an Relevanz und Journalisten wie Kommentatoren in den Sozialen Medien können sich an den Reaktionen und deren Angemessenheit abarbeiten, grundsätzlich und prinzipiell. Das hat dann auch den Vorteil, dass man seine grundsätzliche Haltung nicht mehr durch konkrete Situationen irritieren lassen muss.
These 7: Debatten gehören mit Fakten geführt
Dissens muss man aushalten und auch zulassen können. Fakten sind die Grundlage und die Voraussetzung, nicht aber der Endpunkt von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatte. Fakten können überprüft, aber auch hinterfragt und etwa methodisch begründet verworfen werden. Fakten, das wird mitunter vergessen, ermöglichen oft erst Meinung. Abweichende Meinungen, konkurrierende Beurteilungen und unterschiedliche Interpretationen, welche Handlungsfolgen ratsam wären, können sinnvoll erst aus den Fakten folgen, zugleich bedeuten Fakten nicht, dass es nur eine mögliche Konsequenz aus ihnen gibt. Konsens und Dissens auf Basis von Fakten ist wissenschaftlich wie gesellschaftlich notwendig.
"Wer Meinungsfreiheit hingegen so deuten und darauf beharren möchte, Meinung ohne Fakten zu verbreiten, der sollte damit nicht nur an Universitäten in Probleme geraten."
Sondern auch in den Medien.