Eine demoskopische Begleitung des Umbruchs in Österreich: Wie das Ibiza-Video die Meinungsforschung zur EU-Wahl beeinflusst.
Seit Freitag, dem 17. Mai 2019 um 18:00 Uhr ist nichts mehr, wie es war. Nachdem der “Spiegel” und die “Süddeutsche Zeitung” Videos von einem Ibiza-Auftritt von Heinz-Christian Strache veröffentlicht haben. Mit äußerst pikanten Details. Sowohl im privaten als auch – und insbesondere – im politischen Bereich. Das politische System in Österreich ist einem rasanten Umbruch unterworfen. Acht Tage vor den EU-Wahlen. Und diese Videos wurden auch ganz offensichtlich aus diesem Grund an die Öffentlichkeit gespielt.
Abgesehen von den politischen Komplikationen, die dieser Vorfall und diese absurde House-of-Cards-Posse auf österreichischem Niveau mit sich bringt, ist diese Situation für die österreichische Meinungs- und Sozialforschung ein unglaublicher Super-GAU, der bis dato so noch nie da gewesen ist. In den letzten Wochen und Monaten wurde eine große Anzahl an Interviews zur EU-Wahl gemacht. Das hat in verschiedensten Wellen stattgefunden. Es wurde im Februar 2019 begonnen und bis in die letzten Tage vor der Wahl durchgezogen.
EU-Kommission erschwert Hochrechnungen
Es gab auf medialer Seite eine wirklich große Umfrage, durchgeführt von uns in Kooperation mit ATV, profil und Heute. Eine Stichprobe von 2.400 Personen, die die Lage vor der Wahl sehr gut eingeschätzt und abgebildet hat. Wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass wir beruhigt in diese Wahlauseinandersetzung gehen konnten, auch wenn es für den Wahltag ebenso neue Herausforderungen für die Meinungsforschung gab und gibt.
Denn es ist ja so, dass das Innenministerium erst aufgrund einer Vorgabe der Europäischen Kommission Daten veröffentlichen darf. Das heißt auch, dass die Hochrechner keine Zahlen haben und die Österreicher nicht wie gewohnt um 17:00 Uhr ihre Hochrechnungen sehen können. Deshalb hat man sich in einer Kooperation von ORF und ATV und den Instituten SORA, ARGE Wahlen und Hajek darauf geeinigt, um 17:00 Uhr Hochschätzungen aus den Wahltagsbefragungen zu publizieren. Hierfür würde man auf 5.200 Interviews zurückgreifen. Aufgrund der vorher gemachten Umfragereihen der letzten Wochen und Monate erschien diese Aufgabe eigentlich einfach zu bewältigen.
Ibiza-Video ändert alles
Mit der Ibiza-Affäre ist dies aber alles Schall und Rauch: Wir können rund 15.000 Interviews schreddern und uns nur noch auf die Formel zurückziehen: “Alles ist möglich und nix ist fix.” Die Meinungsforschung kann die weiteren Folgen nicht abschätzen. Selbstverständlich gibt es Theorien. Zum Beispiel: Freiheitliche Wähler werden enttäuscht sein und ins Lager der Nichtwähler gehen. Und andere könnten zur ÖVP wechseln. Tendenziell wenig wird die Sozialdemokratie davon profitieren und einige wird es zu Neos verschlagen. Das sind aber nur Hypothesen, die wir einzig und allein durch das Jahr 2002 – Stichwort Knittelfeld – machen können. Auf festem Boden bewegen wir uns nicht.
Die Problematik besteht darin, dass wir auch keine Testumfrage vor der Wahl mehr ins Feld schicken können. Das wäre normalerweise durchaus möglich, aber der Zeitplan ist zu knapp. Man benötigt eine sehr große Stichprobe, um die geringe Wahlbeteiligung besser abbilden und die Sonntagsfrage besser hochschätzen zu können. Bei einer Stichprobe von 2.000 Menschen und einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent fehlen uns 1.000 Menschen. Wir benötigen also große Stichproben und dadurch Zeit. Und die haben wir nicht.
Online-Umfragen nicht aussagekräftig
Die Wahlforschung wird am Wahlsonntag in kaltes Wasser springen. In Medien gibt es schon publizierte Umfragen, die online durchgeführt wurden. Eine Vorgabe der Markt- und Meinungsforscher (VDMI) ist, dass man keine reinen Online-Umfragen für Hochschätzungen verwenden soll und es mindestens 800 Befragte sein sollen. 800 Befragte sind relativ, denn eine saubere Stichprobe mit einem guten Fragebogen ist mit 500 Befragten genauso aussagekräftig. Die Schwankungsbreite ist nur größer. Anders bei Online-Befragungen: Diese können insbesondere Menschen über 70 weniger gut abbilden als eine repräsentativ gezogene Stichprobe. Ganz abgesehen davon, dass Online-Umfragen an sich schon nicht repräsentativ sind. Die Regel lautet: Jedes Teilchen der Grundgesamtheit muss die Möglichkeit haben, an der Auswahl teilzunehmen – und das ist online nicht gegeben. Hier handelt es sich um eine Panelforschung, also um Menschen, die sich für Befragungen melden. Aus diesem Pool sucht man ein repräsentatives Abbild mittels Quoten nach Geschlecht, Alter, Bildung und Region. Insofern ist es natürlich schwer, die Plausibilität der Umfragen zu prüfen, die derzeit gemacht wurden. Es fehlt der Zugang zu den Rohdaten, man könnte sonst zumindest die Zusammensetzung der Stichprobe überprüfen. Eine Prognose für den Wahltag auf dieser Basis ist mit Vorsicht zu genießen, obwohl gut gemachte Online-Befragungen schon einen Trend erkennen lassen können.
Die Umfrage von “Research Affairs” in der Zeitung “Österreich” scheint nicht gänzlich unplausibel, aber man bewegt sich hier auf äußerst dünnem demoskopischen Eis. Deshalb bleibt uns allen nur, die Wahltagsbefragungen von ORF und ATV abzuwarten – und den Sonntag als Wahltag abzuwarten. Erst dann werden wir mehr wissen. Und wirklich wissen werden wir es um 23:00 Uhr. So viel Zeit muss sein.